Über die Kunst, Menschen zu fotografieren
Zugegeben, ich gehöre nicht zu den Portraitfotografen, dennoch hat mich die Lektüre des Buchs „Psychologie der Fotografie: Kopf oder Bauch“ von Sven Barnow begeistert.
Ich bin fasziniert von den Portraits großer Fotografen wie Arnold Newman (1918-2006) oder Edward Steichen (1879-1973). Ihnen ging es nicht darum, eine Person möglichst schön darzustellen, in ihren Bilder erkennt man das Wesen der abgebildeten Personen. Denke nur an das berühmte Porträt von Igor Strawinsky (1881-1971), in dem Arnold Newman den Komponisten am Flügel zeigt. Ein Meisterwerk! Das ist mehr als das Foto eines Menschen bei der Arbeit. Niemals hätte Newman auf diese Weise einen Komponisten abgebildet, der Musik à la Mozart oder Bach schreibt. Google im Internet nach dem Bild!
Wie genau entstehen solche Porträts? Und was ist der große Unterschied zu einem „ganz normalen“ Porträt - so eindrucksvoll es auch immer sein mag. Swen Barnow, Psychologe und Fotograf, verrät in dem oben erwähnten Buch aus dem dpunkt-Verlag, wie man mehr als bloße Abbilder schafft.
„Das Wesen des Menschen bei der Aufnahme sichtbar zu machen, ist die höchste Kunst der Fotografie“
Dieses Zitat von Friedrich Dürrenmatt steht am Anfang des Buchs und steht als Leitlinie für die folgenden neun Kapitel.
„Als Psychologe und leidenschaftlicher Fotograf bin ich darum bemüht, einen Menschen in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und abzubilden. Nicht das Äußere ist dabei entscheidend, sondern vor allem das Wesen, die Persönlichkeit, die Ausstrahlung.“,
schreibt Barnow im ersten Kapitel.
Aber wie schafft man es, das Wesen, die Persönlichkeit und die Ausstrahlung eines Menschen in einem Foto festzuhalten? Für Barnow sind Vertrauen und Intimität die Grundlagen eines guten Portraits. Er zeigt Coaching- und Gesprächstechniken auf, die beim Umgang mit den Modellen hilfreich sind. Ein Rat ist mir besonders aufgefallen:
„Wenig reden und interessiert zuhören“.
Das steht im krassen Gegensatz zu den Fotografen, die bei der Arbeit eine Show abziehen, um das Modell zum Lachen zu bringen. Swen Barnow spricht u. a. „echten Lächeln“, Er rät, in beliebigen Mode- oder Fotozeitschriften nach echten Lächeln zu suchen. Man erkennt es daran, so schreibt er dass Mund und Augen lächeln. Beim unechten Lächeln lächeln die Augen nicht mit. Ich habe den Test gemacht - und bin auf erstaunlich wenig Fotos von Menschen mit echtem Lächeln gestoßen.
Viele eindrucksvolle Schwarzweiß-Portraits machen deutlich, was Barnow unter einem echten Porträt versteht. Interviews u. a. mit dem Fotografen Walter Schels und Robert Mertens ergänzen Barnows Texte, die das Buch nicht nur zu einer äußerst informativen sondern auch zu einer unterhaltsamen Lektüre machen.
Obwohl hauptsächlich von Portraitfotografie die Rede ist, empfehle ich die Lektüre auch Fotografen anderer Genres. Die Anregungen im Kapitel „Kreativität“ beispielsweise sind für jeden hilfreich - ganz egal, welchem fotografischen Thema er sich widmet. In diesem Kapitel geht der Autor auf verschiedene Aspekte der Kreativität ein, und spricht u. a. von Achtsamkeit.
„Achtsamkeit ist nicht gleich ‚Denken‘ oder ‚Sehen‘ oder ‚Nachdenken‘ … Achtsamkeit … bedeutet im Grunde genommen, sich auf einen bestimmten (fotografischen) Prozess voll und ganz auszurichten oder sich einfach nur den Dingen kommentarlos zuzuwenden.“
Sollte man dies nicht auch bei der Landschaftsfotografie tun? Oder bei der Architekturfotografie? Oder …?
Für mich ist dieses schmale Büchlein ein absolutes „must read“ für jeden, der sich intensiv mit seinen Fotomotiven auseinandersetzen und damit mehr als bloße Abbilder von Menschen und Objekten schaffen möchte.
Psychologie der Fotografie: Kopf oder Bauch?
Über die Kunst, Menschen zu fotografieren
dpunkt-Verlag
144 Seiten
ISBN: 978-3-86490-270-3