Freude am Sehen. Kontemplative Fotografie
Wenn ich Kursteilnehmer frage, warum sie eigentlich fotografieren, höre ich oft: „Ich möchte Erinnerungen festhalten“. Manchmal kommt auch die Klage, dass Motive auf dem Bild nicht so aussehen wie in Wirklichkeit.
Natürlich kann man mit der Kamera Erinnerungen festhalten oder in einer Dokumentation ein Objekt näher beleuchten - mit dem Versuch, möglichst objektiv zu sein. An solchen Fotostrecken reizt mich besonders, dass sie mir neue Welten eröffnen.
Mit der Arbeit an meinem Buch „Jurahäuser. Stille Schönheit im Altmühltal“ habe ich viel über diesen besonderen Haustyp im Altmühltal gelernt. Jetzt fahre ich mit anderen Augen durch diese wunderschöne Gegend.
Dennoch: Mein fotografisches Herz schlägt für eine andere Art der Fotografie. Der berühmte ungarische Fotograf André Kertész bringt es auf den Punkt:
„Ich dokumentiere nie, ich interpretiere immer mit meinen Bildern.
Ich interpretiere, was ich in einem bestimmten Augenblick empfinde,
nicht was ich sehe, sondern was ich empfinde.“
Genau hier setzt die sog. „Kontemplative Fotografie“ an.
„Kontemplativ“ heißt: beschaulich, besinnlich, versunken. In die Fotografie übertragen bedeutet es, dass man ein Motiv konzentriert betrachtet, sich darin vertieft und bestenfalls das Denken völlig vergißt.
Die Architektin und Fotografin Hiltrud Enders hat ein Buch über diese spannende Art der Fotografie geschrieben:
Lesetipp: Freude am Sehen. Kontemplative Fotografie
Hiltrud Enders erklärt darin die kontemplative Fotografie wie folgt:
„Es ist eine sinnliche Erfahrung, die Beschäftigung mit dem, was gerade ist. Mich versenken und auf diesem Weg eine Erkenntnis zu gewinnen. Diese Erkenntnis ist nicht intellektuell, sondern entsteht aus der Erfahrung des Tuns.“
Ganz wichtig für die Autorin ist es, dass die intensive Betrachtung des Motivs nicht darin mündet, sich Kameraeinstellung zu überlegen. Es geht nicht darum, dass ein Bild perfekt belichtet ist oder den üblichen Regeln der Bildkomposition folgt. Auch die Frage, aus welcher Perspektive ein Motiv am spannendsten dargestellt wird, bleibt außen vor
„Kontemplative Fotografie bewegt sich jenseits von Mühe und Abarbeiten. Sie basiert nicht auf der klassischen Idee von Talent, sondern folgt dem Wissen, dass klares Sehen eine uns allen angeborene Begabung ist. … Wir entspannen und setzen den schweren Rucksack der Gestaltungsvorschriften ab, der gefüllt ist mit Vorstellungen davon, was ein gutes Bild ausmacht.“
Meinen Kursteilnehmern empfehle ich immer wieder, sich ein Motiv erst intensiv anzusehen, bevor sie zur Kamera greifen. Daher spricht mir die Autorin mit dem folgenden Ratschlag aus der Seele:
„Tue nichts! Setze dich 10 Minuten an einen Ort deiner Wahl und tue nichts. Stell’ dein Telefon aus. Spüre die Bank oder den Stuhl unter dir, die Luft auf deiner Haut, bemerke deinen Atem, höre die Geräusche deiner Umgebung und sehe, was du siehst. Lass’ die Augen offen. Stell’ alles auf Empfang, aber forsche nicht nach außen.“
Einfach nur hinschauen, ein Motiv anschauen, es mit allen Sinnen bewusst erfassen. Ein Prozess, den die meisten von uns im Laufe der Zeit verlernt haben. Wir (be)urteilen viel zu schnell. Ein kurzer Blick und schon ist klar. Das ist „schön“. Oder „hässlich“. Das Urteil ist gefasst, es gibt keinen Grund, länger hinzusehen.
Die kontemplative Fotografie ist anders:
„In dem Moment, in dem ich beginne zu denken 'Was ist das? „Was bedeutet das? Woran erinnert mich das? Mag ich das? Werden die anderen es mögen? Wie kann ich ein großartiges Foto kreieren?' ist der Prozess frischer Wahrnehmung vorbei. Werde dir gewahr, was du siehst. Verzichte darauf, deine Gedanken wichtig zu nehmen.“
Mir hat der Ausdruck „fotografischer Flaneur“ schon immer gefallen. Es macht mir Freude, völlig entspannt und ohne vorher definiertes Ziel durch die Gegend zu flanieren. Einfach loslassen und die Hektik des Alltags vergessen. Mit der Kamera durch Straßen schlendern, durch die ich bereits tausendfach gegangen bin - und sie auf neue Art zu sehen. Kein Tag ist wie der andere. Und daher sieht die Straße heute völlig anders aus als gestern, bietet mir neue Motive.
„Fotografieren bedeutet im besten Fall, in Kontakt zu gehen mit meiner Umgebung, präsent und aufnehmend.“
Klingt alles kinderleicht, oder? Wäre es auch - wenn wir uns nicht immer wieder selbst im Weg stünden.
Hiltrud Enders führt uns durch den Prozess, wieder bewußt zu sehen. Es macht Laune, ihr Buch zu lesen, darin zu blättern und die Bilder zu betrachten. Ihre Texte liefern Denkanstöße und machen Lust, mit der Kamera die Welt neu zu entdecken.
"Alltagspoesie" heißt das erste Kapitel des Buchs. Es folgen die Abschnitte "Hindernisse und Türöffner" und "Unterwegs". Passt prima. Für mich ist das Buch ein Türöffner, das mir hilft, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und die Alltagspoesie neu zu entdecken.
Über Hiltrud Ehlers
Hiltrud Ehlers hat die kontemplative Fotografie am Miksang-Institut gelernt, an dem sie mittlerweile selbst als Ausbilderin tätig ist. Die Autorin über sich:
„Übersetzt heißt das tibetische Wort Miksang gutes oder auch gereinigtes Auge und ist ein Lernfeld für klares Sehen. Für mich ist die kontemplative Fotografie eine persönliche und eine berufliche Bereicherung. Im Miksang geht es darum, den Blick von Konzepten zu befreien. Das Ziel dieser Art des Fotografierens ist es, Sicherheit in der Wahrnehmung zu gewinnen.“
Schon Henry Ford wusste:
you’ll always get what you’ve always got.“
Die kontemplative Fotografie ist ein guter Ansatz, neue Wege zu gehen. Das Buch „Freude am Sehen“ unterstützt dich dabei.
Freude am Sehen. Kontemplative Fotografie
216 Seiten, komplett in Farbe, Festeinband
dpunkt.verlag
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Liebe Helga, wieder einmal ein sehr gelungener Beitrag von dir, der zum Nachdenken anregt!
Liebe Grüße von Gisela
Danke, liebe Gisela. Es freut mich, dass dich mein Beitrag zum Nachdenken anregt. 🙂