Ob ich mich mit der Weitwinkelfotografie anfreunden kann? Ich gebe zu: Ich liebe es, wenn ich mit meinem Tele-Objektiv nah heran zoomen kann. Es bietet mir die Möglichkeit, Dinge genau anzusehen, die ich mit bloßem Auge nicht erkenne. Schon als Kind haben mich die Ferngläser meines Opas fasziniert (er war Forstmeister und besaß davon eigene). So packe ich i.d.R. meine Festbrennweiten und mein Tele in die Kameratasche, wenn ich auf Fotopirsch gehe.
Allerdings war mir immer bewußt, dass ich damit ein weites Feld links liegen lasse: die Weitwinkelfotografie. Da ich (fotografische) Herausforderungen liebe, habe ich mir vor nicht allzu langer Zeit ein Weitwinkel-Objektiv angeschafft. Das Buch „Weitwinkel-Fotografie“ von Chris Marquardt aus dem Hause dpunkt kam kurz darauf wie gerufen.
Um es vorweg zu nehmen: Ich liebe mein Tele nach wie vor. Aber immer öfter verlasse ich das Haus nur mit dem Weitwinkel auf der Kamera und - dank Christ Marquardt - freunde ich mich damit immer mehr an.
Der Untertitel des Buchs "Weite und Nähe erfassen mit kurzen Brennweiten - inklusive Tilt/Shift“ sagt schon aus, dass es bei einem Weitwinkelobjektiv nicht ausschließlich darum geht, möglichst viel Motiv aufs Bild zu bannen. Ein Weitwinkel kann viel mehr. Lass dich von dem Buch von den Qualitäten einer Weitwinkellinse überzeugen!
Erste Schritte in der Weitwinkel-Fotografie
Nach kurzen Worten zur Einführung im ersten Kapitel, kann man im zweiten Kapitel „Erste Schritte mit dem Weitwinkel“ gleich durchstarten. Die darin vorgestellten Übungen sind zum Nachmachen dringend empfohlen. Hier wird schnell klar,
- wie ein Weitwinkel die Größenverhältnisse von Objekten verändert,
- dass mich ein Weitwinkel dazu zwingt, mein Bild „aufzuräumen“, um meine Bildaussage klar erkennbar zu machen,
- wie ich auch mit einem Weitwinkel Unschärfe ins Bild bringe,
- dass sich die Position eines Objekts im Bild auf die Verzerrung auswirkt.
Was ist ein Weitwinkel?
Das folgende Kapitel widmet sich der Frage, was ein Weitwinkel überhaupt ist. Aber keine Angst: Der Autor erschlägt dich nicht mit Technik und komplizierten Formeln. So ein bißchen Theorie vorweg ist schon wichtig, will man verstehen, was man mit einem Weitwinkel tut.
Die gestalterische Herausforderung
Nach den ersten drei Kapiteln zur Einführung geht es dann mit der „gestalterischen Herausforderung“ im vierten Kapitel richtig los. Wie gehe ich mit Weite, Nähe, Tief um? Wie stelle ich den Vorder- oder Hintergrund frei?
Gestaltung bedeutet immer auch die Steuerung von Aufmerksamkeit. Sobald wir die Werkzeuge beherrschen, die den Blick des Betrachters lenken und ihm bei der Ergänzung des Bilds etwas unter die Arme greifen, kommen wir unser gestalterischem Ziel einen großen Schritt näher.
Zu dieser Hilfestellung gehört ganz besonders die visuelle Trennung unseres Bilds in Wichtiges und Unwichtiges. Oft auch: in Vorder- und Hintergrund, in Hauptdarsteller und Kontext.
Mit einem Tele ist die visuelle Trennung durch die Schärfentiefe ein Kinderspiel. Ein Weitwinkel erfordert hier weit mehr Aufmerksamkeit. Neben der Schärfentiefe sind Kontrast und Lichtführung gute Mittel für die genannte Trennung. Der Autor erklärt, was zu beachten ist und fügt auch einen kleinen Übungshappen hinzu, damit die neuen Erkenntnisse gleich in die Praxis getestet werden können.
Ein Abschnitt in diesem Kapitel widmet sich der Übertreibung. Das Weitwinkel übertreibt in den Größenverhältnissen der Objekte und der Tiefe im Bild. Das mag man mögen - oder auch nicht. Hier zitiert der Autor Henri-Cartier Bresson, der viel mit einer Normalbrennweite fotografiert hat, die genau solche Übertreibungen vermeidet. Cartier-Bresson sagte in einem Interview über das 35mm-Weitwinkelobjektiv:
… very often it is used by people who want to shout. Because you have a distortion, you have somebody in the foreground and it gives an effect. But I don’t like effects. There is something aggressive, and I don’t like that. Because when you shout, it is usually because your are short of arguments.
Das regt zum Nachdenken an, oder? Zum Glück geht Weitwinkel auch ganz ohne Effekthascherei.
Weitwinkel in den verschiedenen Genres
Wir haben alle unsere bevorzugten Motive. Der eine fotografiert gerne Personen, der andere Gebäude oder Landschaften. Im fünften Kapitel kannst du dir Anregungen für deine Lieblingsgenres holen. Landschaft, Architektur, Street und Portrait - zu jedem dieser Genres liefert Marquardt wichtige Informationen und Beispiele.
Nehmen wir die Landschaft. Gerade hier wird gerne zum Weitwinkel gegriffen, bekommt man dadurch doch viel Gegend aufs Bild. Aber ist ein starkes Weitwinkel wirklich die richtige Wahl. Wie weinwinklig muss es für eine Landschaftsaufnahme sein?
Du erfährst, wie du mit der Perspektive umgehst und dein Bild in Vorder-, Mittel- und Hintergrund aufteilst. Auch Reflexionen sind ein Thema. Und es gibt einen Exkurs in die Welt der Panoramen. Quasi nebenbei bekommst du in den Beispielen „am Meer“, „in den Bergen“, „auf dem flachen Land“ noch Infos zum Einsatz von Grau- und Verlaufsfiltern.
Ohne Technik geht es nicht
Die Technikfreaks kommen im nächsten Kapitel voll auf ihre Kosten. Chris Marquardt geht ins Detail (keine Angst: Er verzichtet auch hier auf komplizierte Erläuterungen und Formeln). Ich kann dir nur dazu raten, auch dieses Kapitel intensiv zu lesen. Du wirst bessere Ergebnisse erzielen, wenn du weißt, wie die Kamera und deine Objektive arbeiten, z. B. In Bezug auf Schärfe, Vignettierung, chromatische Aberration und Verzerrung.
Zum Schluss des Kapitels gibt es dann noch eine Kaufberatung für Objektive.
Tilt-/Schift
Die letzen beiden Kapitel richten sich an diejenigen, die ein Tilt/Shift-Objektiv ihr eigen nennen - oder mit einem solchen Objektiv liebäugeln. Ich hatte nie eines, habe die beiden Abschnitte aber dennoch mit großem Interesse gelesen. Vielleicht sollte ich mir die Anschaffung eines Lensbabys doch überlegen? Zumal mich Bilder von einer Kursteilnehmerin und einer Fotofreundin, die beide gerne damit arbeiten, immer wieder überzeugen. Die noch fehlenden Argumente liefert Chris Marquardt in seinem Buch.
Mein Resümee
Nach der Lektüre und dem intensiven Umsetzen der darin enthaltenen Übungshappen kann ich nur sagen: Es lohnt sich, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Natürlich kannst du mit einer neuen Linse einfach losziehen und sie selbst erforschen. Das solltest du auch unbedingt tun! Aber professionelle Anregungen und Anleitungen bringen dich schneller ans Ziel. Ich werde mein großes Tele öfter zuhause lassen und mit meinem leichten Weitwinkel losziehen. Warum tue ich das nicht jetzt sofort? Oder fahre ich doch lieber in die Stadt und kaufe ein Lensbaby?
Weitwinkel-Fotografie
Weite und Nähe erfassen mit kurzen Brennweiten – inklusive Tilt/ShiftChris Marquardt
230 Seiten, komplett in Farbe, Festeinband, dpunkt.verlag