„Nicht was wir sehen, wohl aber, wie wir sehen, bestimmt den Wert des Gesehenen.”
Das o. g. Zitat könnte aus der heutigen Zeit stammen und von einem Fotografen sein. Weit gefehlt! Blaise Pascal, Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph, prägte diesen Spruch. Und der lebte von 1623 bis1662!
Dennoch: Was er sagt, trifft in hohem Maße auf die Fotografie zu. Man könnte „Gesehenen“ auch mit „Fotos“ ersetzen.
Was wir sehen ist klar. Wir schauen hin und erkennen. Aber WIE sehen wir? Und für uns Fotografen wichtig:
- Wie sieht die Kamera im Unterschied zu uns?
- Wie wirken unsere Bilder auf den Betrachter?
Brian Dilg: Wie Fotos wirken
Das Buch „Wie Fotos wirken“ von Brian Dilg geht auf diese Fragen ein - und geht weit tiefer. Der relativ kleine Band aus dem Haus mitp hält weit mehr, als er auf den ersten Blick verspricht. Als ich ihn zum ersten Mal in die Hand nahm, erwartete ich einen knapp gefasssten Ratgeber für die Beurteilung von Bildern. Aber dieses Buch geht viel tiefer!
Wie wir sehen - Mensch vs. Kamera
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Unterschied im Sehen von Kamera und Mensch. Blickwinkel, Fokus, Schärfentiefe, Belichtung, Dynamikbereich usw. - Der Autor beleuchtet alle Aspekte.
„Fotografieren ist, als stimmten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Frequenzen ein, von denen Sie vorher nichts wussten, und als fänden Sie heraus, dass es im Radio unendlich viele Sender gibt.“
Ich war immer der Meinung, dass wir Fotografen viel mehr sehen als Nicht-Fotografierende. Wir entdecken winzige Details, an denen andere vorüber gehen. Einer der Gründe, warum die Fotografie für mich unendlich spannend ist.
Wie wir wahrnehmen - Der visuelle Reiz
„Wissenschaftler schätzen, dass nur 0,0003 - 0,0004% aller sensorischen Eindrücke von uns bewusst wahrgenommen werden.“
Wow! So wenig nehmen wir wahr, was um uns geschieht. Ein Trost:
„Das ist nicht schlimm. Stellen Sie sich vor, Sie müssten bewusst über alles nachdenken, was Sie hören, riechen, sehen, schmecken fühlen - eine wahre Informationsflut. Schlimmer noch, Sie würden es kaum überleben, müssten Sie all diese Informationen bewusst verarbeiten, um zu entscheiden, was Sie damit machen. …
Lustigerweise halten wir dieses winzige Etwas der bewussten Wahrnehmung für unser ganzes ‚Ich‘. Wir preisen es für alles, was wir tun und sind, dabei ist es nur ein Tröpfchen Wasser im riesigen Ozean.“
Ich könnte nicht aufhören, aus diesem Kapitel zu zitieren. Ein Satz noch:
„Mit einem Foto möchten Sie nicht nur zeigen, was Sie sehen, sondern auch, was Sie dachten. Sie übertragen nicht einfach ein Bild auf die Kamera, sondern wollen eine Idee vermitteln.
Als Fotoanfänger schaffen wir aus höflicher Distanz weingefasste Bilder. Uns selbst sind unsere Intentionen klar, weil unsere Gedanken wie Scheinwerfer unsere Aufmerksamkeit in der Szene fokussieren. Dennoch sind diese Fotos chaotisch, mit unglaublich vielen Details, von denen keines besonders heraussticht. Die Betrachter sehen nicht, was Sie sahen, weil sie nicht wissen können, was Sie gedacht haben.“
Dieser Satz fasst zusammen, was ich Kursteilnehmern seit Jahren vermittle. Wir müssen in unseren Bildern zeigen, was wir empfunden/gedacht haben. Alles ist tausendmal fotografiert worden. Ginge es nur um die reine Ansicht, bräuchte kein Mensch noch unsere Fotos vom Eiffelturm, Schloss Nymphenburg & Co.
Nur wenn wir unsere Interpretation zeigen, wenn wir vermitteln, was wir im Moment der Aufnahme gedacht haben, haben wir die Chance auf einzigartige Bilder. Und wenn wir das Chaos in den Bildern vermeiden. Es lebe der König im Bild! (Meine Kursteilnehmer wissen genau, was ich damit meine.)
Natürlich geht dieses Kapitel weiter. Wir lesen u. A. von Skalierung, Substitution, der persönlichen Aufmerksamkeits-Hierarchie und Tonwertkonzepten.
Wie wir denken - Fotos entziffern
„Ich schrieb bereits, dass Kameras keine Gedanken aufzeichnen, nur Licht. Obwohl das auf einer mechanischen Ebene stimmt, ist die Fähigkeit erraten zu können, was andere denken, und zu verstehen, dass ihre Gedanken sich von unseren unterscheiden, einer der wundersamen Aspekte des menschlichen Wesens.“
Das letzte Kapitel des Buchs dreht sich um das Betrachten, die Interpretation von Bildern. Spannend an diesem Kapitel: Obwohl es vom Ansehen fertiger Fotos handelt, lernt man bei der Lektüre unglaublich viel für die Aufnahmepraxis, die Bildkomposition und das Erzählen von Geschichten.
Der Abschnitt „Fluchtpunkt & Blickwinkel“ beispielsweise zeigt, dass ungewöhnliche Blickwinkel ein wirksames Mittel sind, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu erregen.
Der Blickwinkel „sagt etwas über die Idee und die Persönlichkeit des Fotografen aus und verrät etwas über seine Gefühle für das Motiv. Er beeinflusst auch unsere Gefühle.“
Resümee
Im Schlusswort schreibt der Autor:
„Das Erschaffen von Bildern ist ebenso komplex wie die Wahrnehmung selbst und die meisten Fotos werden zu schnell gemacht, um sich des Prozesses direkt bewusst zu sein.“
Der Weg zu guten Fotos ist lang. Es reicht nicht aus, die Funktionen der Kamera und die Regeln der Bildkomposition zu beherrschen. Eine wichtige und oft schwierige Aufgabe ist es, die eigenen Fotos zu sichten. Die Spreu vom Weizen zu trennen. Das gelingt nur, wenn wir wissen, wie Fotos wirken - auf uns und andere Betrachter. Dieses Buch ist ein äußerst hilfreicher Ratgeber, diesen Schritt zu meistern.
Wie Fotos wirken
Wie wir sehen, wahrnehmen und denken
Brian Dilg
mitp Verlag
ISBN: 9783958459922
160 Seiten, Hardcover, in Farbe
Liebe Helga,
wie immer sind deine Fototips einmalig gut! Immer interessantes zum neu dazu lernen und Buchtips!
Gisela G.
Danke, liebe Gisela. Es freut mich sehr, dass dich meine Buchtipps voran bringen.