Setze eine Vorlage in Bilder um
Interpretationen
Was ist eine Interpretation?
Hast du schon einmal ein Gedicht, ein Lied oder eine Zeitungsschlagzeile in Bilder umgesetzt? Zugegeben, das ist keine einfache Aufgabe. Aber sie ist unglaublich inspirierend! Neben dem Essay (siehe Artikel 10 Ideen für Fotoprojekte: Essays) ist diese Art von Fotoprojekt meine absolute Lieblingskategorie.
Eine Teilnehmerin der Meisterklasse hat kürzlich im dritten Modul eine beeindruckende Interpretation des Gedichts "Septembermorgen" von Eduard Mörike (1804-1875) erstellt und mir dazu geschrieben:
"Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas Fantastisches einmal umsetzen würde. Es ist eine ganz tolle Erfahrung, und ich habe mir vorgenommen, weitere Projekte dieser Art zu realisieren."
Septembermorgen
Eduard Mörike (1804-1875) | Interpretation von Renate Lupberger
Im Nebel ruhet noch die Welt
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmen Golde fließen.
Meine erste "literarische Vorlage" habe ich für meine Diplomarbeit erstellt. Damals hatte ich zunächst ein paar Bilder, die ich unbedingt verwenden wollte - aber leider keinen passenden Text dazu. Die Suche nach dem geeigneten Text nahm schließlich mehr Zeit in Anspruch als das Fotografieren selbst.
Im Gedicht "Reigen der Natur" des libanesischen Autores Simon Yussuf Assaf (1938-2013) wurde ich endlich fündig. Nachdem der Text fest stand, konnte ich die restlichen Bilder aufnehmen und schließlich mein Projekt "Reigen der Natur" erstellen. Du findest es in der Galerie.
Tipp
Damit es dir nicht so geht wie mir, suche zuerst die Vorlage und erstelle dann die Bilder. Heute weiß ich, dass diese Vorgehensweise nicht nur weit weniger zeitraubend, sondern auch viel spannender ist.
Literarische Vorlage vs. Interpretation
In meiner Ausbildung wurde diese Art von Fotoprojekt Literarische Vorlage genannt. So richtig treffend finde ich diesen Begriff nicht, da man nicht nur Texte, sondern auch andere (Kunst)werke in Bilder umsetzen kann.
Bei meiner Recherche stieß ich auf den Begriff "Ekphrasis". Laut Wikipedia bedeutet dies:
"Unter Ekphrasis oder Ekphrase ... versteht man eine literarische bzw. rhetorische Form, durch die ein Gegenstand (z. B. Handlungen oder Landschaften) sehr anschaulich und bildlich beschrieben und dem Betrachter dadurch imaginierend „vor Augen gestellt“ ... wird."
Ekphrasis? Auch dieser Begriff überzeugt mich nicht für die Art Fotoprojekt, die mir bei einer Umsetzung einer Vorlage vorschwebt. Ich erlaube mir daher, für meine Kurse und Beiträge einen eigenen Namen zu vergeben und nenne die Umsetzung von Vorlagen von nun an Interpretation.
Diese Bezeichnung passt für mich viel besser, da es – zumindest sehe ich das so – immer um die persönliche Interpretation der Vorlage gehen sollte und niemals um eine reine Umsetzung in Bilder (was für mich wenig kreativ und daher eher langweilig wäre).
Die Vorgehensweise
Eine Vorlage setzt man nicht um, indem man sich die Kamera schnappt und loslegt. Die einzelnen Schritte:
1. Inspiration finden
Wähle zunächst eine Vorlage, die dich inspiriert. Das kann ein Text, eine Musik, ein Film oder ein anderes (Kunst)werk sein.
2. Auseinandersetzung mit der Vorlage
Setze dich intensiv mit der Vorlage auseinander.
- Was bedeutet sie für dich?
- Welche Stimmungen und Emotionen löst sie in dir aus?
- Was könnte der Autor oder Komponist gemeint haben?
Lies zwischen den Zeilen!
3. Stil wählen
Überlege dir, ob du die Vorlage humorvoll, nachdenklich oder auf andere Weise interpretieren möchtest.
4. Fotografische Umsetzung planen
Welche fotografischen Mittel möchtest du einsetzen? Was passt am besten zu dem Thema?
- Schwarzweiß oder Farbe?
- Gesättigte oder entsättigte Farben?
- Gestische Fotografie?
- Fotos im Stil von Wabi-Sabi?
- Minimalistische Aufnahmen?
- ...
5. Erstelle deine Interpretation
Du hast die o. g. Punkte geklärt? Dann lege los und fotografiere die Bilder. Anschließend sortierst du sie aus und stellst sie zu einer Präsentation zusammen. Überlege dir bei jedem Bild, ob es wirklich deine Vorlage interpretiert. Vermeide unbedingt Doppelungen, also mehrere Bilder, die ähnlich aussehen.
Fotointerpretation veröffentlichen
Wenn du ein solches Projekt veröffentlichen möchtest, sei es in einem Social Media Kanal oder auf deiner eigenen Webseite, solltest du unbedingt die Vorlage zitieren. Dazu brauchst du jedoch die Genehmigung des Urhebers, sofern das Werk geschützt ist. Der Schutz von Werken erlischt erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Informiere dich also, ob du das Werk verwenden darfst, oder kontaktiere den Urheber.
Ich hatte bei meinem Projekt "Reigen der Natur" Glück. Ich machte Simon Yussuf Assaf im Libanon ausfindig, konnte sogar mit ihm telefonieren und erhielt postwendend die notwendige Genehmigung. Viele Briefe folgten. Ich bin heute noch dankbar für diesen Glücksfall, der erheblich dazu beigetragen hat, dass ich Interpretationen im Allgemeinen und dieses Projekt im Besonderen so sehr liebe.
Nun bist du an der Reihe: Hier sind die versprochenen zehn Ideen für Interpretationen:
10 Ideen für Fotoprojekte: Interpretationen
Idee 1: Setze ein Gedicht in Bilder um.
Suche dir ein Gedicht und schaffe für jede Strophe oder jedes "Bild" im Gedicht ein oder mehrere Fotos. Es geht nicht darum, Zeile für Zeile abzubilden, sondern deine persönlichen Gedanken auszudrücken.
Idee 2: Zeitungsschlagzeile in Fotos
Suche dir eine Schlagzeile aus der Zeitung und setze sie kreativ in Bilder um. KREATIV! Du musst nicht zum Ort des Geschehens rasen und Reporter spielen. Wenn beispielsweise von einem Unfall die Rede war, frage dich, wie du Trauer, Schmerz und Zerstörung in Bilder fassen kannst.
Idee 3: Zitate bebildern
Jeder meiner wöchentlichen foto.tipps beginnt mit einem Zitat. Es steckt so viel Weisheit in diesen Worten. Ich liebe es sehr, mir Gedanken über die Aussagen zu machen. Doch es gibt eine Steigerung: Zitate in Bilder umsetzen.
Beginne mit einem Zitat, das dich inspiriert und setze es fotografisch um. Du kannst ein einzelnes Bild pro Zitat oder eine Serie von Fotos aufnehmen, die die Botschaft des Zitats verdeutlichen oder sogar verstärken.
Es muss natürlich kein Zitat über die Fotografie sein. (Fast) jedes Zitat ist geeignet. Vielleicht machst du eine Serie mit Zitaten eines Autors? Oder mit verschiedenen Zitaten zum gleichen Thema?
Idee 4: Bauernregeln fotografieren
In Wikipedia findest du einen Beitrag mit vielen Bauernregeln - geordnet nach Monaten. Stöbere darin, wähle eine eine oder mehrere Regeln aus und setze sie in Fotos um. Zum Beitrag auf Wikipedia
Idee 5: Redewendungen und Sprichwörter abbilden
Wähle verschiedene Redewendungen oder Sprichwörter und fotografiere Szenen, die deren Bedeutung darstellen. Wie würdest du z. B. "Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute." umsetzen? Oder "Neue Besen kehren gut."?
Idee 6: Kurzgeschichte zusammenfassen
Erzähle die Handlung einer Kurzgeschichte mit einer Serie von Fotos. Jedes Bild soll einen wichtigen Moment der Geschichte einfangen.
Idee 7: Modernes Märchen erzählen
Wähle ein klassisches Märchen und transportiere es in die heutige Zeit, in einen zeitgenössischen Kontext. Wie würde die Geschichte vom Rotkäppchen oder Aschenputtel heute aussehen?
Idee 8: Lieder visualisieren
Wähle ein Lied aus und stelle die wichtigsten Zeilen oder den Refrain in Bildern dar. Kinder- oder Volkslieder sind dafür bestens geeignet.
Idee 9: Geräusche festhalten
Ich erinnere mich gut an meine Schulzeit: Im Kunstunterricht wart der Lehrer eines Tages einen Malkasten aus Metall auf den Boden und forderte uns auf, das Geräusch zu malen. Was für eine spannende Aufgabe!
Welche Farben und Formen würdest du wählen? Wie würdest du dieses Geräusch in einem Foto zeigen. Experimentiere mit verschiedenen Geräuschen und erstelle daraus eine Bildstrecke.
Idee 10: Einen Film in Bildern zeigen
Erzähle die Handlung eines Films in mehreren Bildern. Welche Szenen sind wichtig? Was ist die Kernaussage des Films, und wie könntest du diese in Bildern umsetzen?
Zeige die Szenen in einer ähnlichen oder einer völlig anderen Umgebung. Es geht um die Interpretation der inhaltlichen Aussage des Films, nicht um den Ort oder die Personen!
Weitere Beispiele aus der Meisterklasse Kreative Fotografie
Ich finde die Teilnehmerarbeiten in der Meisterklasse einfach nur großartig. Vor allem im dritten Modul, das sich mit gestischer Fotografie beschäftigt, sind im Laufe der Zeit viele Interpretationen entstanden. Zwei davon habe ich in meinem foto.blog veröffentlicht.
Grodek
Gedicht von Georg Trakl (1887-1914) | Interpretation von Eva Kaufmann-Schreiber | zum Projekt
Wohin gehen die Tage
Liedtext von Erika Pluhar (*1939) | Interpretation von Christa Schiffner | zum Projekt
Der Erlkönig
Ballade von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) | Interpretation von Klaus Götsch | zum Projekt
Ich hoffe, diese Ideen und Bilder inspirieren dich dazu, Interpretationen zu erstellen. Ich wünsche dir gutes Gelingen und viel Freude dabei!
Kurse zu diesem Thema
- Meisterklasse kreative Fotografie:
Onlinekurs 6 oder 12 Monate mit intensiver Begleitung
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Danke schön, liebe Helga für die Veröffentlichung. Ich freue mich und bin auch ein bisschen stolz.
Auch ich habe, so wie du vorschlägst, zuerst das Gedicht ausgesucht und mich durch den Text inspirieren lassen.
Und auch für mich ist diese Art der Fotografie natürlich eine Interpretation.
Das freut mich sehr, liebe Renate. Herzlichen Dank! Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg in der Meisterklasse.