Mich lässt die "Achtsame Fotografie" nicht los. Vor ein paar Tagen habe ich dazu das Buch von Sven Barnow im foto.blog vorgestellt. Für ihn gehören zur achtsamen Fotografie:
- Nicht werten: Weder Dinge, Gedanken oder Gefühle.
Das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Rennen wir nicht (fast) alle mit festgefahrenen Meinungen durch die Welt? "Nicht werten" bedeutet für mich auch "nicht vergleichen" und setzt unbedingt Loslassen voraus. - Sich nicht auf das Ergebnis fokussieren.
Klingt erst einmal leicht, ist es für mich aber leider nicht: Entdecke ich ein reizvolles Motiv, habe ich meist direkt das Bild im Kopf, das ich aufnehmen möchte. Das Bild vor dem Auslösen der Kamera zu visualisieren ist für mich wichtig, denn nur so kann ich Wesentliches hervorheben (den König) und Unwesentliches weglassen. Dennoch gebe ich Barnow recht: Ich renne nicht mit der Kamera durch die Gegend, habe Bilder im Kopf und suche Motive. Ich lasse mich zunächst inspirieren, warte ab, welche Motive mich "anspringen". Habe ich mich für ein Motiv entschieden, kommt der Kopf wieder ins Spiel. Wenn sich das Gedankenkarussell um Alltagskram dreht, kann ich nicht kreativ sein. - Sich Zeit lassen.
Hier gebe ich Barnow absolut recht. Wir müssen beim Fotografieren nicht zum Zug, oder? Dennoch: Es gibt Situationen, in denen man keine Zeit hat. Immer dann zum Beispiel, wenn sich Menschen oder Tiere bewegen. Wenn ich auf Sylt eine Möwe fotografieren möchte, die sich auf ein Fischbrötchen stürzt, kann ich mir keine Zeit lassen. Ich füge zu "sich Zeit lassen" die "innere Ruhe" hinzu. Die ist für mich unverzichtbar beim Fotografieren. Und die habe ich mit Sicherheit, wenn die Möwen beobachte. - Sich die folgende Frage stellen: Kann ich mit dem Bild ausdrücken, was mich im Moment beschäftigt?
Wenn ich ein Motiv sehe, frage ich mich, WAS mich daran fasziniert und WARUM ich es fotografieren will. Das passiert automatisch in Sekundenschnelle, erfordert also kein langes Abwägen. Nur durch die Beantwortung dieser Fragen wird mir klar, wer oder was der König im Bild sein wird. Wenn ich mich dazu entschieden habe, die Kamera zu zücken, taucht natürlich auch die Frage auf, wie ich aus dem "Objekt" vor mir das Bild realisieren kann, das ich im Kopf habe. Erst dann fälle ich Entscheidungen zu den Kameraeinstellungen und dem passenden Objektiv.
Barnow zitiert Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn, einen der bekanntesten Achtsamkeitsforscher, der in seinem Buch "Wach werden und unser Leben wirklich leben" schreibt:
Mit den Sinnen in Kontakt zu sein - und es sind, wie die moderne Gehirnforschung zeigt, wesentlich mehr als nur fünf - und mit den Welten, die sie uns innen und außen eröffnen: Das ist die Essenz der Achtsamkeit.
Ich glaube, dass "Achtsame Fotografie" für jeden etwas anderes bedeutet. Bis ich mich näher damit beschäftigt habe, tauchte erst einmal Ablehnung auf. "Schon wieder Achtsamkeit!" "Das ist doch nur ein Modewort!" So viel zum Thema Wertung. 🙂
Ist es nicht völlig egal, wie wir diese Art der Fotografie nennen? Hauptsache ist doch, wir lassen uns auf unsere Motive ein und rennen nicht nur knipsend mit gezückter Kamera durch die Gegend.
Und weil sein Zitat so richtig und wichtig ist, noch einmal der gute Kertész:
Ich dokumentiere nie, ich interpretiere immer mit meinen Bildern. Ich interpretiere, was ich in einem bestimmten Augenblick empfinde, nicht was ich sehe, sondern was ich empfinde.
André-Kertész (1894-1985)
Für die folgenden beiden Bilder habe ich mir viel Zeit genommen. Ich bin vor Sonnenaufgang an den See geblieben, habe mich mir ein schönes Plätzchen mit guter Aussicht gesucht, das ich erst nach Sonnenuntergang verlassen habe. Noch heute denke ich gerne an diesen Tag am See zurück. Warum mache ich so etwas eigentlich nicht öfter?


Was bedeutet "Achtsame Fotografie" für dich? Schreibe doch einen Kommentar dazu. Das würde mich sehr freuen.
Liebe Helga, ich habe da spontan ein Gedanke gehabt, wie wäre es mit dem Begriff traumasenibles fotographieren. Was könnte das sein. Ich bin beim traumasensiblen Musikunterricht, bei traumasensibler Musikimprovisation schon angekommen, weil ich mitlerweise sehen kann, dass wir alle druch TRaumatisierung Probleme haben miteinander in Kontakt zu treten. Wir tun so, als könnten wir es, übergehen die GEfühle des Stresses, machen gute Miene. Manche können das dann nicht mehr, weil der Leidensdruck steigt. In einer Gruppe wo man zusammen spielt zum Beispiel, das macht den einen Spass, den andern nicht, weil es im Grund anstrengend ist gegen Gefühle der Ueberforderung anzukämpfen indem man sie ignoriert. Also die grosse Frage, was könnte traumasensibles Fotographieren sein. MIr fällt da spontan auch ein, dass viele allein unterwegs sind mit den Fotokameras, und froh sind, nicht in Kontakt treten zu müssen. Und andere wählen aber gerade den Kontakt auch beim Fotographieren….was ist also unser Ziel. Warum fotographieren wir. Worum geht es im Leben. Will man lernen etwas richtig zu machen und bleibt dem Ehrgeiz verpflichtet? Hm!
Ich hatte die Idee, sich mit der Musikimpro so zu beschäftigen, dass man sich erst mal trifft ohne überhaupt Musik zusammen zu machen. Zuerst mal schauen wie es mit der Begegnungsfreude wirklich bestellt ist, und was man tun kann, damit alle in einen Zustand kommen, wo sie sich sicher und entspannt fühlen können. Erst wenn diese Basis geschaffen ist, können alle mit Freude dabei sein. Keine Ahnung wie das jetzt mit dem Fotographieren in Zusammenhang bebracht werden kann. Aber da kommen sicher sehr individuelle Antworten! Ich freue mich über Echo. Herzliche Grüsse Ursula
Das klingt sehr spannend, liebe Ursula.
Ich kenne mich leider mit traumsensiblem Unterricht überhaupt nicht aus, bin aber überzeugt, dass es hier auch mit Fotografie spannende Konzepte geben kann. Die Kunsttherapie hat sich doch (so wie ich weiß) längst bewährt. Mir fallen zum Thema Trauma-Bewältigung mit Hilfe der Fotografie sofort die Fotos von Francesca Woodman ein, die mit ihrer Fotografie gegen Depressionen ankämpfte. Inwieweit dies wirklich zu deinem Ansatz passt, kann ich leider nicht beurteilen.
Ich wünsche dir viel Erfolg!!!